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Fazakas Sándor657 -- 677

Nach einem Vierteljahrhundert seit den gesellschaftlich-politischen Umwälzungen Ost- Mittel-Europas im Jahre 1989 sind die ungarischsprachigen reformierten Kirchen der Region immer noch vor die Frage gestellt: Mit welchen weitreichenden Konsequenzen ist zu rechnen, wenn die Verantwortung für die Geschichte und für die moralisch-sittliche Schuld erwähnt wird? Eine Reduktion der Schuldfrage auf die Feststellung, dass Kirchenleitende, Pfarrerinnen und Pfarrer bzw. kirchliche Mitarbeiter zu ihren persönlichen Taten (d.h. geheime Zusammenarbeit mit der Staatsmacht) und Versäumnissen stehen sollten, wird an sich der Sache nicht gerecht. Einerseits wird in dieser Studie gezeigt, warum eine solche Zusammenarbeit mit Repressionsorganen eines totalitären Staats als theologisch absurd und damit als Schuld zu betrachten sei. Andererseits wird betont, dass Versagen und Schuld nicht nur dort zu finden sind, wo man aus Furcht und Angst vor repressiven Maßnahmen oder aus erhofftem Eigennutz auf Protest, Fürsprache für Entrechtete, auf Kritik am politischen Regime oder an den eigenen kirchenpolitischen Kompromissen verzichtete, sondern auch dort, wo man die gesellschaftliche Realität verengt wahrnahm und auf eine theologisch-kritische Analyse dieser Wirklichkeit verzichtete. Verantwortlich sind ein Christ und die Kirche nicht nur für ihre Taten, sondern auch für ihre Sicht der Wirklichkeit, ja für ihre Theologie. Als Folge dieser theologischen Orientierungskrise blieb für die Kirche entweder eine unkritische Bejahung bzw. Begeisterung für das politischgesellschaftliche Sein der Wirklichkeit oder eine Reihe von politisch-ethischen und theologischen Zugeständnissen, um eventuell Schlimmerem vorzubeugen. Dieser Zusammenhang von anscheinend harmlosen Zugeständnissen, Kompromissen oder Verzichten auf theologische Deutungen der Wirklichkeit – ganz zu schweigen vom Mangel an gelebter Solidarität – hat zur persönlichen Schuldverstrickung des Einzelnen geführt. Nach der systemtheoretischen bzw. sozial-theologischen Darstellung der Schuld in der Vergangenheit bietet die Studie schließlich einige Kriterien für einen adäquaten Umgang mit der Vergangenheit im kirchlichen und gesellschaftlichen Raum: Die ethische Dimension des Aufarbeitungsprozesses, die Förderung einer Kultur des Mitleidens, die zwangsfreie Ermöglichung der Erinnerung und die Komplementarität der politisch-rechtlichen und religiös-moralischen Dimensionen der Versöhnung sollten dafür sorgen, dass nicht weitere Verletzungen (als „zweite oder dritte Schuld”) das Miteinander der Generationen trüben, sondern dass ein freies, friedliches und der historischen Wahrheit verpflichtetes Zusammenleben ermöglicht wird.

Református Szemle 107.6 (2014)Research articleSystematic theology